Ketamin und Esketamin in der Behandlung der therapieresistenten Depression
Spätestens seit Elon Musk öffentlich erklärt hat, dass er regelmässige Ketamin erhält, ist diese Therapieform wieder in aller Munde; und mit der Zulassung von Spravato auch unter bestimmten Bedingungen durch die Krankenkassen finanziert. Um hier die Legenden von den Fakten zu trennen, werde ich einen kurzen Überblick über diese alten und doch neuen Therapieformen geben.
Einleitung: Depression
Depressionen zählen zu den häufigsten Erkrankungen in der westlichen Welt; in der Schweiz hatten etwa 30% der Bevölkerung im Laufe des letzten Jahres eine depressive Episode, etwa 5.2% der Bevölkerung leiden aktuell an einer schweren Depression (Major Depression) mit Folgekosten von etwa 11 Mia Schweizer Franken1. Dabei werden etwa 40% der Patienten mit Depression durch den Hausarzt diagnostiziert.
Für eine depressive Episode müssen die Symptome während mindesten 14 Tagen bestehen. Dabei wird zwischen Hauptsymptomen (gedrückte Stimmung, Interessensverlust und Freudlosigkeit sowie Antriebsverminderung und erhöhte Ermüdbarkeit) und Zusatzsymptomen (Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Gefühl der Wertlosigkeit, negative Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken oder -handlungen, Schlafstörungen, verminderter Appetit) unterschieden. Je nach Anzahl der Symptome werden die Depressionen in leichte, mittelgradige und schwere eingeteilt; zusätzlich wird der Verlauf (einzeln oder rezidivierend, anhaltend und episodisch, Dauer, unipolar oder bipolar) beurteilt. Bei schweren Episoden können zudem psychotische Symptome, beispielsweise Verarmungs- oder Krankheitswahn bestehen. Halluzinationen sind nicht ausgeschlossen, meist bestehen sie bei psychotischen Depressionen als akustische (z.B. beschimpfende Stimmen) oder olfaktorische Halluzinationen. Die Psychomotorik kann entweder gehemmt bis hin zu einem Stupor oder erregt sein («gehemmte vs. agitierte Depression»). Insbesondere bei Patienten mit schwerer Depression wird neben der Psychotherapie fast immer auch eine Pharmakotherapie eingesetzt.
Die meisten antidepressive Medikamente wirken über die serotonergen Rezeptoren, entweder als selektive Serotonin-Wiederaufnahme Inhibitoren (SSRI) oder als Serotonin-Noradrenalin Wiederaufnahme Inhibitoren (SSNRI). Etwa ein Drittel der Patienten mit schwerer Depression zeigt jedoch keine ausreichende Wirkung auf diese Medikation oder eine begleitende Psychotherapie2. Bei diesen Patienten mit therapieresistenter Depression rücken in letzter Zeit zunehmende andere Therapiemöglichkeiten in den Vordergrund.
Die S3-Leitlinie zur therapieresistenten Depression aus dem Jahr 2022 (die Schweizer Leitlinie wurde zuletzt 2010 aktualisiert) empfehlen neben der Pharmakotherapie und Psychotherapie auch additive Therapien wie beispielsweise die Elektrokrampftherapie (EKT); auf diese werde ich hier nicht näher eingehen3.
Ketamin
Ketamin wurde in den 1960er Jahren als Narkosemittel synthetisiert und verbreitete sich insbesondere während des Vietnamkriegs in der Behandlung von Kriegsverletzungen. Ketamin wirkt als Antagonist am N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) Rezeptor.
Ketamin induziert Schlaf und Schmerzfreiheit unter weitgehender Erhaltung der Schutzreflexe und wird deswegen von der WHO auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel geführt. Allerdings zeigte sich rasch, dass einzelne Nutzer neben der anästhetischen Wirkung auch psychomimetische Effekte, Halluzinationen oder Out-of-Body Erfahrungen hatten. Ketamin-Missbrauch («Special-K») führte dazu, dass der Einsatz ausserhalb der Anästhesie für lange Zeit deutlich eingeschränkt war. Allerdings führte dieser Substanzmissbrauch auch zur Entdeckung der Antidepressiven Wirkung von Ketamin. E. Domino - einer der Entwickler des Ketamins als Anästhetikum berichtet über eine Patientin aus den 80er Jahren, die angab, dass Ketamin und PCP (ein Vorläufer des Ketamins) schneller und besser gegen ihre Symptome wirkten als Antidepressiva. Sie müsse diese allerdings häufig nehmen, da ihre Wirkung nicht so lange anhalte4.
Die dissoziativen Eigenschaften des Ketamins wurden daneben in der Forschung zur Schizophrenie eingesetzt - sowohl bei gesunden Probanden als auch bei Patienten mit Psychosen5. Auch in diesen Studien fanden sich Hinweise auf eine antidepressive Wirkung des Ketamins.
Ketamin-Infusionstherapie bei Depression
Die erste plazebokontrollierte Studie aus dem Jahr 2000 fand eine rasche Wirkung des Ketamins auf die Suizidalität und die Stimmung bei Patienten mit schwerer Depression6. Während die dissoziativen Effekte des Ketamins innerhalb von 60 Minuten nachliessen, hielt die Wirkung auf die Depression und suizidalen Gedanken auch nach 24 Stunden an.
Murrough et al. konnten zeigen, dass wiederholte Ketamin-Infusionen (6 Infusionen über 12 Tage) bei 70.8% der Patienten mit therapieresistenter schwerer Depression zu einer länger anhaltenden Symptombesserung führten, ohne dass die Nebenwirkungen zunahmen7.
Die verwendete Dosis lag in den meisten Studien bei 0.5mg/kg Körpergewicht. Initiale Versuche mit der oralen Ketamin-Gabe zeigten eine geringe Bioverfügbarkeit von 17-29% vor allem durch den firstpass Effekt in der Leber; die intranasale, rektale und sublinguale Administration war mit einer Bioverfügbarkeit von 8-45% tendenziell leicht besser; bei intramuskulärer Injektion war die Bioverfügbarkeit bei 93%.
Aufgrund der guten Ansprechraten wurden Ketamin-Infusionen zunehmend als off-label Anwendung bei Patienten mit Depressionen ausserhalb von Studien eingesetzt. Zunächst waren vor allem die Universitätsspitäler beteiligt, wobei die Infusion häufig in den Abteilungen für Anästhesie oder Schmerztherapie erfolgten. Die Praxis Fischmann bietet seit 7 Jahren Ketamin-Infusionen für Patienten mit schweren Depressionen an. Die Infusionen finden in den Räumen der Praxis statt, wobei neben dem Arzt auch immer eine Fachpflegekraft anwesend ist. Analog zu den Studienprotokollen werden 0.5mg/kg Körpergewicht Ketamin über 40 Minuten mit Perfusor gleichmässig infundiert. Die Patienten werden während der Infusion und im Anschluss zumindest eine weitere Stunde lang überwacht. Die meisten Patienten zeigten dabei ein hervorragendes Ansprechen, insbesondere die Suizidalität nimmt nach der Infusion rasch und für längere Zeit anhaltend ab. In der Regel wird die Infusion im Laufe von 2-3 Wochen 6-mal wiederholt. um eine längerfristige Symptomreduktion zu erzielen.
Dazu kamen in den letzten Jahren Ketamin-Lutschtabletten und Ketamin Nasenspray als Magistralrezeptur; sowie seit 2020 auch Esketamin-Nasenspray als erstes für die Behandlung der Depression zugelassenes Ketamin-Derivat.
Mechanismen und Potenzial Esketamin
Ketamin bestehen aus einem Racemat mit gleichmässiger Verteilung der beiden Varianten (R)-Ketamin und (S)-Ketamin. Dabei hat (S)-Ketamin eine 3- bis 4-fach höhere Bindungsaffinität zum NMDA-Rezeptor als (R)-Ketamin8. Spravato ist ein Nasenspray mit dem Wirkstoff Esketamin (S-Ketamin) und wurde am 25. Februar 2020 von Swissmedic für die Behandlung therapieresistenter Depressionen bei Erwachsenen zugelassen, die auf mindestens zwei verschiedene Behandlungen der aktuellen mittelschweren bis schweren depressiven Episode mit Antidepressiva nicht angesprochen haben. Spravato wird in Kombination mit einem anderen, oralen Antidepressivum angewendet.
Wirkmechanismus
Der genaue Wirkmechanismus von Esketamin ist nicht vollständig verstanden, jedoch ist bekannt, dass es sich von herkömmlichen Antidepressiva unterscheidet. Während die meisten Antidepressiva auf das Serotonin-, Dopamin- oder Noradrenalin-System wirken, zielt Esketamin auf das glutamaterge System ab, das eine Schlüsselrolle in der Modulation von Stimmung und kognitiven Funktionen spielt. Diese unterschiedliche Zielsetzung könnte erklären, warum Esketamin bei Patienten wirksam sein kann, die auf andere Behandlungen nicht ansprechen.
Anwendung und Effektivität
Spravato wird in Kombination mit einem oralen Antidepressivum angewendet. Die Behandlung beginnt in der Regel mit einer Anfangsphase, in der Esketamin zwei Mal pro Woche für einen Zeitraum von vier Wochen verabreicht wird. Abhängig von der individuellen Antwort des Patienten kann die Behandlung angepasst werden.
Klinische Studien haben gezeigt, dass Esketamin schnell wirken kann, oft innerhalb von Stunden oder Tagen, im Gegensatz zu den Wochen, die herkömmliche Antidepressiva benötigen. Dies macht es zu einer wertvollen Option für Patienten mit schweren depressiven Episoden oder für diejenigen, die Suizidgedanken haben.
Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen sind eine therapieresistente Depression, definiert durch ein fehlendes Ansprechen auf eine antidepressive Medikation über einen ausreichenden Zeitraum (beispielsweise SSRI), Kombinationstherapie auf 2 Antidepressiva und Augmentationstherapie mit Lithium oder einem atypischen Neuroleptikum.
Sicherheit und Nebenwirkungen
Wie bei allen Medikamenten gibt es auch bei Esketamin Risiken und Nebenwirkungen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Übelkeit, Schwindel, Dysgeusie (Geschmacksstörungen), Sedierung und Blutdruckerhöhung. Aufgrund dieser potenziellen Nebenwirkungen und der Möglichkeit eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit wird Spravato unter strengen Richtlinien verabreicht und überwacht.
Zusammenfassung
Esketamin bietet für viele Patienten mit schwerer oder therapieresistenter Depression neue Hoffnung. Durch seinen einzigartigen Wirkmechanismus und die Fähigkeit, schnell zu wirken, stellt es eine bedeutende Ergänzung zum Spektrum der verfügbaren antidepressiven Behandlungen dar. Dennoch ist es wichtig, dass Patienten und Ärzte die Risiken und Vorteile sorgfältig abwägen und die Behandlung in einem sicheren und kontrollierten Umfeld durchführen.
Ausblick - psychoaktive Substanzen in der Psychiatrie
Der Ausblick auf die Verwendung psychoaktiver Substanzen in der Psychiatrie ist sowohl vielversprechend als auch herausfordernd. In den letzten Jahren haben Fortschritte in der neurologischen und psycho-pharmakologischen Forschung zu einem besseren Verständnis der komplexen Mechanismen geführt, die psychischen Störungen zugrunde liegen. Dies hat die Tür für innovative Behandlungsansätze geöffnet, die über traditionelle Medikamente hinausgehen und psychoaktive Substanzen einschließen, welche das Potenzial haben, tiefer liegende psychische Probleme anzugehen.
Psychedelische Forschung
Ein bemerkenswerter Bereich der Forschung konzentriert sich auf Psychedelika wie Psilocybin (der Wirkstoff in magischen Pilzen), LSD, und MDMA (Ecstasy). Diese Substanzen zeigen in klinischen Studien vielversprechende Ergebnisse in der Behandlung von Bedingungen wie therapieresistenter Depression, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Angstzuständen bei lebensbedrohlichen Krankheiten und Suchterkrankungen.
Psychedelika wirken durch die Beeinflussung der Serotoninrezeptoren im Gehirn, was zu tiefgreifenden Veränderungen in der Wahrnehmung, dem Gedankenprozess und der emotionalen Reaktionsfähigkeit führt. Diese Veränderungen bieten den Patienten oft neue Perspektiven auf ihre Probleme und ermöglichen es ihnen, psychologische Barrieren zu überwinden, die ihre Krankheit aufrechterhalten. Studien deuten darauf hin, dass unter sorgfältiger medizinischer Aufsicht verabreichte psychedelische Erfahrungen die psychische Gesundheit nachhaltig verbessern können.
Herausforderungen und Bedenken
Die Integration psychoaktiver Substanzen in die psychiatrische Behandlung wirft jedoch auch ethische, rechtliche und praktische Fragen auf. Die potenzielle für Missbrauch und Abhängigkeit, psychische Nebenwirkungen und die Notwendigkeit einer sorgfältigen Überwachung sind wichtige Überlegungen. Zudem sind die gesellschaftliche Akzeptanz und rechtliche Rahmenbedingungen in vielen Ländern nach wie vor Hürden für die Forschung und klinische Anwendung dieser Substanzen.
Regulatorische Entwicklungen
Trotz dieser Herausforderungen gibt es bedeutende regulatorische Entwicklungen, die den Weg für die Verwendung von psychedelischen Substanzen in der Therapie ebnen. Beispielsweise hat die FDA Psilocybin und MDMA den Status einer «Breakthrough Therapy» für bestimmte Anwendungen verliehen, was den Entwicklungs- und Überprüfungsprozess dieser Behandlungen beschleunigt.
Quellen
- https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/publications/2015/obsan_56_bericht.pdf
- Hashimoto K.: Rapid-acting antidepres-sant ketamine, its metabolites and other candidates: A historical overview and fu-ture perspective. Psychiatry and Clinical Neurosciences 73: 613-627.2019
- DGPPN, BAK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depres-sion. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare De-pression - Kurzfassung, 2. Auflage. Version 1. 2017 [cited: YYYY-MM-DD]. DOI: 10.6101/AZQ/000366. www.depression.versorgungsleitlinien.de.
- Domino EF. Taming the ketamine tiger. Anesthesiology 2010; 113:678-684.
- Krystal JH, Karper LP, Seibyl JP, Freeman GK, Delaney R. Bremner JD. Heninger GR, Bowers MB Jr. Charney DS: Subanesthetic effects of the noncompetitive NMDA an-tagonist, ketamine, in humans. Psychoto-mime-tic, perceptual, cognitive, and neuro-endocrine responses Arch Gen Psych-iat 1994:51:199-214
- Berman RM, Cappiello A, Anand A et al. Antidepressant effects of ketami-ne in de-pressed patients. Biol. Psychiatry 2000; 47: 351-354.
- Murrough JW, Perez AM, Pillemer S et al. Rapid and longer-term anti-depressant effects of repeated ketamine infusions in treatment-resistant major depression. Biol. Psychiatry 2013; 74: 250-256.
- Hashimoto K.: Rapid-acting antidepres-sant ketamine, its metabolites and other candidates: A historical overview and fu-ture perspective. Psychiatry and Clinical Neurosciences 73: 613-627, 2019